Jurybegründung

Boris Mikhailov ist zweifellos einer der wichtigsten Chronisten der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft. International bekannt geworden ist der 1938 in der Ukraine geborene Fotograf durch seine aufwühlenden Bilder von Obdachlosen in seinem Geburtsort Charkow. Der über 400 Farbfotografien umfassende Bilderzyklus Case History (Krankengeschichte, 1997−1999) konfrontiert uns in drastischer und zum Teil schwer zu ertragender Direktheit mit dem Leben von Menschen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verarmt und ohne soziale Unterstützung am Rande der Gesellschaft leben. Boris Mikhailov zeigt sie hilflos und nackt als Opfer eines fatalen gesellschaftspolitischen Wandels und gibt ihrem Schicksal und schonungslosen Leid damit ein Gesicht. Diese zutiefst existentiellen Bilder, die auch vor körperlichen Geschwüren und Verstümmelungen nicht Halt machen, sind Ausdruck einer grundlegenden Gesellschaftskritik, wie sie in Boris Mikhailovs Arbeiten immer wieder zu finden ist.

Ausgebildet als Ingenieur beginnt Boris Mikhailov in den 1960er Jahren sich in seiner Freizeit mit der Fotografie zu beschäftigen, erprobt ihre technischen Möglichkeiten und experimentiert auf vielfältige Weise mit dem Bildmaterial, das er zu ungewöhnlichen und neuen Darstellungsformen führt: Bildüberlagerungen, Kolorierungen, Verfremdungen, humorvoll kritische Text- und Bild-Kombinationen aus eigenem und gefundenen Material dienen ihm dazu, den Alltag und die repressive Situation in der damaligen Sowjetunion zu dokumentieren und zu kommentieren. Vordergründig bedient er eine regimegetreue Ästhetik, gleichzeitig wird sie subversiv unterlaufen und ironisch gebrochen: In diesem labilen Gleichgewicht entstehen unter anderem großangelegte Serien wie die Red Serie (Rote Serie, 1968–1975), Black Archive (Schwarzes Archiv, 1968-1979), Viscidity (Klebrigkeit, 1982), By the Ground (Am Boden, 1991) oder At Dusk (Dämmerung, 1993), deren Titel schon ihr kritisches Potential und ihre subversive Kraft erkennen lassen. Immer wieder ist der Verlust des Privaten durch die Kontrolle und Repressionen eines totalitären politischen Systems Thema seiner frühen Arbeiten, die er immer als Serien konzipiert und zunächst in Form von Büchern angelegt hatte.

Mit seiner dokumentarisch-konzeptuellen Arbeitsweise sucht Boris Mikhailov die ungeschönte, oft auch brutale Wahrheit in seiner unmittelbaren Umgebung festzuhalten: „urbane Landschaften“, inszenierte, humorvoll-ironisch gebrochene Porträts von Freunden und dem Ehepaar Mikhailov selbst, Texte, Zeichnungen, Künstlerbücher durchziehen bis heute sein Werk, das vor historisch unbequemen Themen und Kommentaren nicht zurückschreckt. If I were a German… (Wenn ich ein Deutscher wäre…, 1994) spekuliert in provozierend sexuell aufgeladenen Szenarien über die Besatzung der Ukraine durch die Deutschen während des II. Weltkriegs.

Auch seine letzte auf der Manifesta 10 in St. Petersburg gezeigte Serie The Theater of War, Second Act, Time Out (Dezember 2013) hält eine bedeutende historische Situation und das Schicksal einer Gruppe von Menschen aus unmittelbarer Nähe fest: In großformatigen Panoramaansichten im Stil des Russischen Realismus des 19. Jahrhunderts sowie in kleinen, in Tischvitrinen präsentierten Abzügen zeigt der Künstler die disparate Gruppe der protestierenden Camper auf dem Maidan während der ersten Monate der Ukraine-Krise.

Der mehrfach, unter anderem mit dem Albert Renger-Patzsch-Preis (1997), dem Hasselblad Foundation Award (2000) und zuletzt 2012 mit dem Spectrum – Internationaler Preis für Fotografie der Stiftung Niedersachsen ausgezeichnete Künstler, dessen Werk international ausgestellt wurde (u.a. Portikus, Frankfurt am Main, 1995; Kunsthalle Zürich, 1996; Stedelijk Museum, Amsterdam, 1998; Museum of Modern Art, New York, 2001; Fotomuseum Winterthur, 2003; Institute of Contemporary Art, Boston MA, 2004; Berlinische Galerie, Berlin, 2012; Sprengel Museum, Hannover, 2013) lebt heute mit seiner Frau Vita in Berlin und Charkow.